Kapitel 3 Bruchstrasse

Bevor sich Carl Spitteler – nach einer frühen Reise 1862 mit seinem Onkel und der ‹Selbstflucht› nach Luzern in einer existentiellen Krise 1864/65 –, er war damals 47 Jahre alt, 1892 endgültig in Luzern niederliess, galt er als ein ziemlich erfolgloser Schriftsteller, dessen einziges grösseres Werk, das in rhythmisierter Prosa geschriebene Epos «Prometheus und Epimetheus» (1880 und 1881) praktisch kein Echo ausgelöste hatte. Spitteler fristete sein Leben als Lehrer (davon acht Jahre als Hauslehrer in Russland) und Journalist, zuletzt immerhin als Feuilletonredaktor der ‹Neuen Zürcher Zeitung›. Durch die Heirat 1883 mit der Holländerin Marie Op den Hooff, einer früheren Schülerin, die einer begüterten Familie entstammte, wurde Spitteler, zumindest nach dem Tod des Schwiegervaters 1893, materiell mehr oder minder unabhängig und konnte dem Leben eines freien Schriftstellers frönen, wobei er nicht zwingend in Luzern hätte wohnen bleiben müssen. Das geistige Klima Luzerns um die Jahrhundertwende und die Landschaft der Innerschweiz behagten aber dem Schriftsteller offensichtlich, und er brachte nun eine reiche literarische Ernte ein, mit der er sich sowohl gegen die klassisch-romantische Tradition als auch gegen die aktuellen Strömungen und Moden der Zeit bewusst abgrenzte. Trotzdem blieb er mit den grossen geistigen Bewegungen der Jahrhundertwende verbunden, nicht nur mit dem psychoanalytischen Roman «Imago» (1906), in dem eine Geschichte ganz aus der Ich-Perspektive des Erzählers aufgerollt wird; der Roman weckte das Interesse Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs, die hier wissenschaftliche Erkenntnisse dichterisch bestätigt oder vorweggenommen fanden. Auch Spittelers Hauptwerk «Olympischer Frühling» (1900–1905; neue Fassung 1909), dieses Weltgedicht nach dem Muster der grossen Renaissance-Epen in rund 20’000 Versen, ist nur äusserlich ein rein ästhetisches, sich selbst genügendes Kunstwerk, mit gewissen Anlehnungen an den Jugendstil. Im Innern ist es eine verschlüsselte Darstellung der pessimistischen Weitsicht des Dichters nach Schopenhauer, die durchaus die Gegenwart meint – allerdings erzählt in einer fantasievoll-eigenwilligen, bilderreichen Sprache, die das Werk wie ein ‹Riesenspielzeug›, ein mythologisches Märchen, erscheinen lässt: Ein kurzer olympischer Frühling bringt Licht und Freude in eine von zweifelhaften Göttern regierte und von Gewalt und List beherrschte Welt. Spitteler erhielt 1920 (geltend für das Jahr 1919) für dieses Werk den Nobelpreis, er ist bis heute der einzige in der Schweiz geborene Literatur-Nobelpreisträger. Noch bekannter ist er in der Schweiz jedoch durch seine 1914 vor der ‹Neuen Helvetischen Gesellschaft› gehaltene Rede «Unser Schweizer Standpunkt», in der er für die bedingungslose Neutralität der Schweiz im Ersten Weltkrieg plädierte. Spitteler starb am 29. Dezember 1924 als Ehrenbürger von Luzern (seit 1909). Seine Leiche war die erste, die in Luzern überhaupt kremiert wurde. Seine Asche ruht in einem mit Rhododendren bepflanzten Ehrengrab im Friedental in Luzern.
Aber Spitteler war wie erwähnt bereits erwähnt vor seinem definitiven Zuzug 1892 und nach der kleinen Reise mit seinem Onkel 1862 bereits einmal längere Zeit in Luzern: Von 1864 bis 1865 wohnte er in der Bruchstrasse 20, wo heute eine Gedenktafel angebracht ist, die auf diesen ehemals wichtigen Residenten hinweist. Allerdings war das Haus damals ein anderes als heute. – Aber wie kam Spitteler dahin?
Im Jahr 1863 beginnt Carl Spitteler in Basel mit dem Studium der Rechtswissenschaften – ganz entschieden auf Wunsch des Vaters. Dies ist der direkte Anlass zur immer unzufriedeneren Stimmung, die im Frühling 1864 in eine beunruhigende Krankheit mündet. In einem späten autobiographischen Entwurf Spittelers ist die Rede von einer «schweren nervösen Depression, hervorgerufen durch schmerzlichen Konflikt mit dem eigenen Vater». Schon in diesen Tagen gibt es einen Fluchtversuch des delirierenden Patienten, der massgeblich dazu beiträgt, die Umgebung in Liestal darin zu bestärken, der Carl Spitteler junior sei nicht mehr ganz recht im Kopf. Im November schliesslich, nachdem das Jurisprudenz-Studium infolge der Krankheit ausgesetzt worden war und ihm der Vater die Stelle eines Feuerversicherungsinspektors aufgedrängt hatte, kommt es zur einschneidenden «Dionysoswanderung»: Bloss etwa dreissig Franken im Sack, keine Ersatzkleider dabei, sonst nur Schreib- und Waschzeug auf sich, den Magen ein letztes Mal vor der Wanderung gefüllt, den Abschiedsbrief an die Eltern geschrieben, schäumend vor Unzufriedenheit und Enttäuschung: «Die Vergangenheit verfluch ich, und die mir Übles getan, die verachte ich, und dem Gott schwöre ich Rache, der mich erschuf nach seinem Vergnügen, und euch, ihr Menschen, will ich helfen! Fort!» – so ging es im November 1864 los.
Carl Spitteler muss in den Monaten November/Dezember 1864, ganze 19 Jahre alt, auf dieser ungewissen Flucht vor der Welt und sich selbst, ein schauriges Bild abgegeben haben. Erbarmungswürdig lesen sich seine Aufzeichnungen dieser schicksalsträchtigen Reise, die berichten vom zunehmend jämmerlichen Zustand der Kleidung, von malträtierten Füssen. Spitteler lässt sich vielerorts gutmütig aufnehmen, verköstigen, beherbergen, aber auch verhöhnen und ausnützen. Alles scheint an ihm abzugleiten, abzuprasseln. So geht es ohne rechtes Ziel vom 12. November bis am 8. Dezember kreuz und quer durch die Nord-, Nordost- und Zentralschweiz, bis die unstete Wanderung Anfang Dezember in Luzern zu einem Halt kommt. Das Drama «Saul» in Entwurfsform trägt Spitteler als eine Art Versprechen der Zukunft auf Mehr mit im kargen Gepäck.
Annähernd zehn Monate bleibt Carl Spitteler dann 1864/65 in Luzern, in einer geradezu idealen Zufluchtsstätte beim Oberschreiber Julius Rüegger (eben: Bruchstrasse 20 (in einem Mansardenzimmer); nur ganz kurz bewohnte er zwischenzeitlich ein Zimmer im Mariahilf-Schulhaus), Sekretär des kantonalen Baudepartements, den er über dessen Untermieter Gerold Vogel kennenlernt, welcher wiederum mit seinem langjährigen Freund Joseph Viktor Widmann befreundet ist. Vogel selbst war enttäuscht aus den universitären Kreisen in Heidelberg zurückgekehrt und hatte sich als Fotograf in Luzern niedergelassen, «hinter dem Schützenhaus», wie auf seinen Fotografien gedruckt steht, im eben erstellten Haus des Oberschreibers im Erdgeschoss an der Bruchstrasse 20.
Julius Rüegger beruhigt nach der Ankunft ihres Sohnes Spittelers Eltern zwar brieflich, verschweigt ihnen jedoch dessen Aufenthaltsort. Carl Spitteler sollte später unter anderem deswegen bekennen: «Da fand ich bei edlen Menschen ein Asyl.» Vor allem die junge Frau des Luzerner Beamten und Hausbesitzers, Josefa Rüegger, steht Spitteler zur Seite, um aus seiner Lebenskrise herauszufinden. Hier, bei Rüegger, führt Spitteler den zu Lebzeiten nie veröffentlichten, weil Fragment gebliebenen «Saul» weiter, hier erscheint eine erste kleine Veröffentlichung in der ‹Schwyzer Zeitung› (eine Rezension über ein Oratorium Louis Spohrs), hier erholt er sich körperlich und geistig: «Liebes Luzern, ich will dich segnen, wo ich so vielen Seelentrost gefunden und wieder Menschen gefunden habe.»
Und es geschieht, was Spitteler sich kaum mehr erhofft hat: Die Beziehung zu seinem Vater beginnt sich ein wenig zu klären und man einigt sich darauf, dass der Sohn irgendein Studium wieder aufnehme; allerdings nur scheinbar eines nach ‹freier Wahl›. Denn letztlich kann er seinen Vater, von dem er die Lebenskosten gedeckt erhält, doch nicht dazu überreden, dass er Literatur studieren darf. So entscheidet sich der Sohn für das Studium der Theologie, das er im Herbst 1865 in Zürich beginnt.
Aber zurück zum Neunzehnjährigen: Spitteler sagt Jahrzehnte später: «Wäre ich damals nicht hieher [= nach Luzern] gekommen, so könnten Sie keinen Siebzigjährigen feiern; man hätte einen Neunzehnjährigen begraben.» Mit diesen Worten nahm Carl Spitteler anlässlich der Feier seines 70. Geburtstages 1915 zum ersten Mal öffentlich eindeutig Bezug auf die zweite Reise nach Luzern von 1864. Etwas versteckt hatte er bereits im «Olympischen Frühling» das frühe Flucht-Erlebnis und die ihn wiederaufbauende Hilfe von Frau Rüegger und einer jungen Pianistin, Emmeline Stauffer, die im Hause Rüegger verkehrte und in Spitteler verliebt war, verarbeitet – im «Gesang des Dionysos».

Dominik RIEDO / Juni 2019