Spitteler und das Kino

«Und nun das Wichtigste: das Psychologische. Da fange ich gar nicht an, sonst könnte ich nicht aufhören. Kurz, ich gestehe, oft aus dem Kinema im tiefsten Herzen ergriffen und erschüttert zurückzukehren. Die Kinodramen sind ja sämtlich Rührstücke und Tugenstücke, ob auch in sensationeller Sauce. Dergleichen ist ja freilich literarisch wertlos. Allein, es gibt noch andere Werte als literarische: Lebenswerte, Beispielwerte. Sieg der Guten über die Bösen, edelmütige Verzeihung, feuchte Augen von Dank und Liebe strahlend, bitten dringend um dergleichen im wirklichen Leben. Nein, sittengefährdend ist das Kino jedenfalls nicht, eher das Gegenteil: ultramoralisch, pedantisch moralisch.» («Meine Bekehrung zum Kinema», 1916)

1916 wird im Luzerner Regierungsrat eine neue Gesetzesvorlage behandelt. Man will eine kantonale Filmzensur – eine städtische gibt es bereits – und die Billettsteuer für Kinos einführen. Das Luzerner Lichtspielgesetz ist mit dem Gesetz gegen die Schundliteratur kombiniert. Theater und Zirkus und andere Veranstaltungen sind von der Billettsteuer nicht betroffen. Der Staat will eingreifen, weil er das Kino als niedere Kunst betrachtet, die auf das Volk schädlich wirke, da müsse vorgebeugt werden.
Damals gab es sechs Kinos in Luzern.
Auch Spitteler gehört vorerst zu den Verächtern des Kinos. 1914 geht er erstmals ins Kino – und der Augenmensch Spitteler bekehrt sich zum Kino, wie sein Zeitungsartikel von 1916 bereits im Titel ausdrückt: «Meine Bekehrung zum Kinema.» Dieser ist 1916 zuerst im Luzerner Tagblatt, dann einen Monat später in der Basler «National-Zeitung» erschienen. Die Basler-Fassung ist etwas länger als die Luzerner Fassung.
Der Artikel erregt Aufsehen, wird in Fachkreisen diskutiert, und wie Fritz Schaub schreibt, hefteten die Luzerner Kinos Spittelers Bekenntnis auf ihre Fahnen – eine wichtige Promotion in den damals schwierigen Zeiten (des Ersten Weltkrieges).
Spielfilme mit schönen Schauspielerinnen und Kulturfilme liebt Spitteler, mit Räubergeschichten kann er nichts anfangen. Zu seinen Lieblingsschauspielerinnen zählt die Italienerin Lyda Borelli. Er kann sich nicht an ihren Bewegungen sattsehen, meint, sie sei nicht nur eine gute, vielmehr auch eine sehr schöne Schauspielerin.
Als Qual empfindet er hingegen die Live-Musik zu den Stummfilmen, insbesondere wenn sie schludrig gespielt wird.
Der politisch denkende Spitteler fordert, die Kinos als stumme Lichtspieltheater sollen genauso wie das singende und sprechende Stadttheater behandeln werden und Steuerfreiheit und Subventionen erhalten. Er empfiehlt zudem, es sei wirkungsvoller gute Filme zu zeigen, als Zensur zu üben.